Wie offen bleibt das Internet?

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Zum absehbaren Ende der Netzneutralität dank EU-Verordnung 2015/2010

Europäische Institutionen haben nicht nur ein demokratisches Legitimationsproblem, sondern auch ein reales Akzeptanzproblem in der Bevölkerung. Sieht man sich an, was jüngst zum „offenen Internet“ gemäß EU-Verordnung 2015/2010 geregelt wurde, beweist sich nicht nur ersteres, sondern wird auch zweiteres nicht notwendigerweise verbessert.

Industriepolitischer Hintergrund

Durch umfassende Wirtschaftslenkung unter dem Deckmantel vermeintlicher „Liberalisierung“ ist es u.a. zu einem gewissen Investitionsrückstau bei moderner Kommunikationsinfrastruktur gekommen. Gleichzeitig bietet nicht mehr der Staat, sondern ein privatwirtschaftlich agierender Mobilfunk-, Festnetz- oder Kabelfernsehbetreiber typischerweise „Anschluss“ an Kommunikationsnetze einschließlich Internet.

Nachdem letzteres früher eher ein Zusatzangebot zum Telefon war und erst Akzeptanz gewinnen musste, wurden die Inhalte tendenziell den „Internet-startups“ überlassen. Nun, wo das Internet allgegenwärtig ist, wollen die eigentlich nur für die Übertragung zuständigen Netzbetreiber stärker auf die Inhalte einwirken: Anstatt dem Kunden uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Möglichkeiten und Adressen des Internet zu bieten, wälzen einige Netzbetreiber Gedanken, eigene Internetanwendungen über Bevorzugung zu forcieren oder neben der bisherigen Übertragungsleistung inhaltsabhängige „Mautgebühren“ zu verrechnen: So könnten amerikanische Suchmaschinen-, Kaufhaus-, Filmübertragungsbetreiber etc. zu Zusatzzahlungen an den lokalen Netzbetreiber für „rascheren Zugang zum Kunden“ bewegt werden und europäische Kunden zu ähnlichen Zahlungen für „optimierte Videowiedergabe“ oder ähnliches.

Von der Idee eines offenen, flexiblen und innovationsfreundlichen Netzes im Sinne eines gleichsam öffentlichen Guts, das alle mit allen gleichberechtigt im Sinne der Netzneutralität verbindet und nur stabil die Daten übertragen muss, entfernt man sich damit. Stattdessen war die Europäische Kommission (Kommissar Günther Oettinger) ohne Rücksicht auf das Wesen des Internet rasch überzeugt, dass es neuer Regeln bedarf, um das Internet künftig im Sinne betriebswirtschaftlicher Mehrerträge der lokalen Netzbetreiber „steuern“  zu können.

„Internetzugangsdienste“, „Verkehrsmanagement“ und „Spezialdienste“

Obwohl auf europäischer Ebene an sich nur agiert werden darf, wenn das Problem im Sinne der Subsidiarität nicht national gelöst werden kann (und entsprechend überhaupt ein Problem vorliegt), wurde hier gar mit der härtesten Keule, also mit einer europäischen Verordnung, zugeschlagen. Diese ist unmittelbar verbindlich; im Fall der EU-Verordnung 2015/2010 ab 30.4.2016. Obwohl sie verbindlich sein will, ist zwar ihre Botschaft zwischen den Zeilen klar, dass die bisherige Netzneutralität des Internet Hintertüren im betriebswirtschaftlichen Sinne der Betreiber erhält und damit pervertiert wird. Im Detail sind die vagen und unstimmigen Regeln jedoch so unklar, dass man sich erst recht nicht klar danach richten kann.

Grob wird es künftig „Spezialdienste“ geben können, für die die bisherigen Regeln des Internet zur Netzneutralität von Vornherein nicht gelten (Art. 3 Abs. 5; angeblich für Telemedizin und selbstfahrende Autos, wobei auch Fernsehangebote des Betreibers nicht ausgeschlossen sind). Aber auch das auf der restlichen vorhandenen Übertragungsbandbreite verbleibende bisherige Internet in Form von „Internetzugangsdiensten“ kann per „Verkehrsmanagement“ wohl besser gesteuert werden als bisher (Art. 3 Abs. 4). Offenbar soll der Betreiber anstatt Konzentration auf ordentlichen Netzausbau den Inhalt des Internetverkehrs überwachen dürfen (z.B. deep packet inspection), um bei drohender Überlastung auch innerhalb des „normalen“ Internet manche zeitkritischere Internetdienste (z.B. Telefonieren) zu Lasten anderer Verkehrsarten (z.B. E-Mail, aber mitunter auch Videos oder nicht zuordenbare, verschlüsselte Übertragungen) bevorzugen zu können. In der Praxis wird allfälliger „Missbrauch“ des Verkehrsmanagements ohne technische Notwendigkeit nur schwer von „gerechtfertigten“ Einschränkungen abgrenzbar sein.

Ausblick

Da in der Verordnung jegliche Details fehlen, wird die Auslegung der Verordnung bis August 2016 weitgehend an die unverbindlichen Leitlinien der europäischen Regulatoren (GEREK) delegiert. So könnte es auch noch zu einer realen Sicherung der Netzneutralität kommen. Es ist jedoch zu befürchten, dass die Lobbyisten dort noch bessere Berücksichtigung als bei der Verordnung finden und weniger „Störungen“ durch Medien und Öffentlichkeit zu erwarten sind, sodass die vagen Hintertüren hinter den unklaren Bestimmungen vermutlich weiter geöffnet werden.

Viel mehr als noch ein weiteres Quäntchen Vertrauensverlust hat das demokratiepolitisch fragwürdige Gebilde „EU“ samt der im Rechtsetzungsverfahren entscheidenden Europäischen Kommission damit auch nicht mehr zu befürchten. Umfassende Sympathiewerte verdient man sich aber anders.

 

Philipp Lust, Jurist
www.lust.wien/recht

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