Hallo, Fiskalstrukturplan!
Wie alle Mitgliedstaaten hätte auch Österreich bis 20. September 2024 einen mittelfristigen Fiskalstrukturplan (mFSP) der Europäische Kommission (EK) übermitteln müssen. Aus guten Gründen (Parlamentswahl) hat die EK eine Fristverlängerung bis Jahresende gewährt, woraus folgen würde, dass bis dahin auch die EK keinen neuen Referenzpfad für einen Netto-Primärausgabenpfad übermitteln wird.
Ökonomisch macht es keinen Sinn, den von der wirtschaftlichen Entwicklung überholten Pfad (genauer: das anhand des strukturellen Primärsaldos abgeleitete Konsolidierungserfordernis) tatsächlich einem mFSP zu Grunde zu legen: Er würde von der EK nicht akzeptiert werden, da ein Konsolidierungserfordernis von (damals) jährlich rd. 2,5 Mrd. EUR nicht ausreichen würde, die Vorgaben des „präventiven Arms“ des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu gewährleisten.
Aufgrund der noch andauernden Verhandlungen zur Bildung einer Bundesregierung wird Österreich keinen mFSP beschließen und rechtzeitig bis 31.12.2024 der EK übermitteln. Ohne weiteren weiterer Aufschub würde aufgrund dieses Versäumnisses der Rat (ECOFIN) Österreich empfehlen, einen auf Basis der EK-Herbstprognose aktualisierten Referenzpfad als Netto-Primärausgabenpfad zu verwenden (Artikel 19 Verordnung (EU) 2024/1263). Pragmatisch betrachtet wird Österreich wohl ein weiterer Aufschub gewährt werden. Zu berücksichtigen wäre die Zeitspanne bis zu einer Einigung über ein Regierungsübereinkommen, und der erst danach sinnvoll zu führende „fachliche Dialog“ (gemäß Artikel 12 Verordnung (EU) 2024/1263) mit der EK bis zur Fertigstellung des mFSP.
Offensichtlich hat bereits im Dezember 2024 die Bundesregierung von sich aus die EK um einen aktualisierten Referenzpfad gebeten. Wenig überraschend hat die EK am 15.12.2024 jedoch (noch) keinen Referenzpfad vorgelegt, sondern nur „informelle Daten und Informationen“ an das BMF übermittelt. Gemäß Artikel 9 (1) Verordnung (EU) 2024/1263 wird EK spätestens am 15. Jänner 2025 einen aktualisierten Referenzpfad für die Empfehlung des ECOFIN vorlegen. Wird Österreich jedoch ein wohl mehrmonatiger Aufschub gewährt werden, mag dieser kurzfristig als Rahmen für den mFSP dienen, könnte aber für die bis dahin aufgeschobene Entscheidung des ECOFIN wieder überholt sein.
Zur Relevanz des Referenzpfades der EK
Der in der Öffentlichkeit entstandene Eindruck, dass für die weiteren Koalitionsverhandlungen ein Referenzpfad der EK notwendig sei, ist irreführend. Ebenso der Eindruck, dass erst dadurch das Konsolidierungserfordernis bestimmbar sei. Tatsächlich sind und waren sämtliche Daten und Methoden öffentlich verfügbar, um jederzeit einen den Fiskalregeln entsprechenden mFSP zu formulieren.
In der Festlegung seines Netto-Primärausgabenpfades ist jeder Mitgliedstaat frei, sofern dieser Pfad folgenden drei Anforderungen entspricht:
- der risikobasierten Schuldentragfähigkeitsanalyse (DSA) mit ihrer Szenario- sowie stochastischen Analyse,
- einer schuldenbasierten und
- einer defizitbasierten Resilienzmarge („Schutzklausel“)
(siehe Artikel 6, 7, und 8 der Verordnung (EU) 2024/1263[5]). Das Konsolidierungserfordernis (ausgedrückt als Verbesserung des strukturellen Primärsaldos in % des BIP) entspricht dem restriktivsten aus diesen drei Anforderungen. So soll auch nach dem Ende des Anpassungszeitraums eine rückläufige Schuldenquote sichergestellt werden. Der Netto-Primärausgabenpfad ergibt sich letztendlich aus dem strukturellen Primärsaldo unter Heranziehung länderspezifischer Semi-Elastizitäten.
Gemäß Artikel 19 Verordnung (EU) 2024/1263 prüft die EK, ob der mFSP einschließlich des Netto-Primärausgabenpfad den Kriterien entspricht – tut er das nicht, empfiehlt sie dem ECOFIN, ihren Referenzpfad als den Netto-Primärausgabenpfad für den Mitgliedstaat festzulegen.
Was das Konsolidierungserfordernis wesentlich beeinflusst
In die Berechnungen der EK fließen verschiedene Annahmen bzw. Parameter ein, von denen jedoch nicht alle fix vorgegeben sind. Das bedeutet, dass ein Mitgliedstaat unter Umständen mit eigenen Berechnungen (nach der EK-Methode) zu einem geringeren Konsolidierungserfordernis kommt als es dem Referenzpfad der EK entsprechen würde. Der ECOFIN wird auch einen solchen Netto-Primärausgabenpfad billigen, sofern der Mitgliedstaat die Abweichung seines Pfades im Zuge eines „technischen Dialoges“ mit der Kommission „anhand stichhaltiger und datengestützter wirtschaftlicher Argumente“ begründet (Artikel 13 lit. b) Verordnung (EU) 2024/1263 ). Eine modellgestützte Studie des österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) könnte dafür einen Input liefern, zumal das WIFO den Status einer unabhängigen finanzpolitischen Institution im Sinne von Artikel 8a der Richtlinie 2011/85/EU hat.
Abgesehen von der Daten-Ausgangslage, die ausschließlich auf Prognosen beruht (auch noch für das Jahr 2024), spielt der Fiskalmultiplikator in den Berechnungen eine wichtige Rolle: Der Multiplikator quantifiziert die Wirkung einer fiskalischen Maßnahme auf das Wirtschaftswachstum und wird in den Berechnungen der EK mit Hinweis auf diese Studie standardmäßig für alle Mitgliedstaaten auf 0,75 gesetzt: Eine Senkung des Budgetdefizits um 1% des BIP reduziert das BIP-Wachstum im selben Jahr um 0,75 %-Pkte. Darüber hinaus unterstellt die EK, dass der Multiplikator auch im folgenden Jahr mit 2/3 und im darauffolgenden Jahr mit 1/3 seiner ursprünglichen Wirkung das Wachstum dämpft.
Das Schuldenwachstum wird neben dem Primärsaldo wesentlich von der ökonomischen „Verzinsung“ des Schuldenstands getrieben. Diese „Verzinsung“ entspricht der Differenz zwischen der impliziten Verzinsung der Staatsschuld und der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate (Zins-Wachstumsdifferential). Da sich die implizite Verzinsung der Staatsschuld nur langsam ändert, spielt das Wachstum die entscheidende Rolle: In der Mechanik der EK-Berechnung mit Multiplikator 0,75 verursacht bei einer Schuldenquote von ~80% des BIP und einem Zins-Wachstumsdifferential von -0,7% eine einmalige Senkung des Budgetdefizits um 1% des BIP über den daraus resultierenden negativen Wachstumseffekt im darauffolgenden zweiten Jahr nur eine um 0,39%-Pkte niedrigere Schuldenquote als ohne die Fiskalmaßnahme. Bei einem Multiplikator von 0,3 würde in diesem Experiment der Schuldenstand hingegen um 0,75%-Pkt fallen.
In der aktuellen Situation ist für Österreich die schuldenbasierte Schutzklausel das strengste, somit relevante Kriterium: Demnach muss bei einem Anpassungszeitraum von 4 Jahren die Schuldenquote um durchschnittlich 0,5%-Pkte des BIP pro Jahr sinken, also 2028 um 2%-Pkte niedriger sein als 2024).
Wie hoch das daraus abgeleitete Konsolidierungserfordernis ist, hängt nicht nur davon ab, ob Österreich einem ein Verfahren wegen eines übermäßigen Defizits (üD-Verfahren) unterliegen wird (oder eben nicht) und ob in der jeweiligen Situation ein 4 oder auf bis zu 7 Jahre verlängerter Anpassungszeitraum gewählt wird. Genauso wichtig sind die konkreten Konsolidierungsmaßnahmen mit ihren jeweiligen Multiplikatorwirkungen.
Gelingen Konsolidierungsmaßnahmen mit einem geringen Multiplikator, wirkt sich das stark auf das gesamte Konsolidierungserfordernis aus. Der Effekt wirkt durch „frontloading“ verstärkt, das heißt, dass zu Beginn des Anpassungszeitraums höhere Konsolidierungsanstrengungen erfolgen (Stichwort Vermeidung eines üD-Verfahrens).
Wie eine Konsolidierungsstrategie konkret aussehen könnte, wird im Beitrag Vorschläge zur Budgetkonsolidierung 2025-2028 skizziert.
Peter Brandner, Die Weis[s]e Wirtschaft
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