Die Kalte Progression – eine zweckdienliche Analyse

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Im Zuge der Diskussionen zur Steuerreform ist die sog. „Kalte Progression“ ein heißes Thema geworden. Im medialen Interesse steht insbesondere die Frage, ob die von der Regierung geplante Tarifentlastung von 4,9 Mrd. € quantitativ den Effekt der Kalten Progression (zumindest) seit der letzten Tarifreform 2009/10 auszugleichen vermag. Es zeigt sich: richtig interpretiert, entlastet die Tarifreform 2015/16 (deutlich) mehr, als es bei einer bloßen Abgeltung des Kalten Progression-Effektes notwendig gewesen wäre.

Zur Definition der Kalten Progression

Bei einem progressiven Steuertarif steigt das Steueraufkommen prozentuell stärker als die Bemessungsgrundlage. Diese und somit das Steueraufkommen kann aus zwei Gründen steigen:

  • Einerseits, weil sich die „reale Leistungsfähigkeit“ erhöht hat (das reale Einkommen ist gestiegen).
  • Andererseits, weil selbst bei gleicher „realer Leistungsfähigkeit“ zwar das nominelle Einkommen gestiegen ist (durch eine teilweise oder vollständige Inflationsanpassung), das reale Einkommen jedoch nicht.

Der gesamte Progressionseffekt setzt sich somit aus einer Leistungskomponente (höhere Leistungsfähigkeit) und einer Inflationskomponente zusammen. Unter Kalter Progression wird nun jene progressionsbedingte steuerliche Mehrbelastung verstanden, die aus einer Erhöhung der Bemessungsgrundlage im Ausmaß der Inflation resultiert. Würden jedoch die Tarifgrenzen laufend um die Inflationsrate angepasst werden, bliebe die reale Steuerbelastung gleich, solange sich an der realen Leistungsfähigkeit nichts ändert.

In der Vergangenheit haben Regierungen die progressionsbedingten Steuermehreinnahmen durch Steuertarifreformen diskretionär korrigiert, wie anhand der Grafik „Lohnsteuerquoten seit 1995 gut erkennbar ist: Selbst 2013 lag die Lohnsteuerquote (VGR-Daten) mit 20,1% nur um 0,1 Prozentpunkte über dem Wert von 2003, aber noch um 0,1 Prozentpunkte unter dem Wert von 2008! Nach der Tarifreform 2015/16 wird die Lohnsteuerquote (VGR-Daten) deutlich sinken und auf das Niveau von Ende der 1990er Jahre fallen!

Trotzdem könnte die Kalte Progression aus folgenden Gründen beseitigt werden:

  • makroökonomisch, um die Einkommensentwicklung (und damit auch die Konsumentwicklung) stabiler zu halten, und
  • demokratiepolitisch,  weil sie eine nicht durch expliziten Parlamentsbeschluss legitimierte Steuererhöhung darstellt.

Wie hat sich die Kalte Progression seit der Tarifreform 2009/10 entwickelt?

Zwei Fragestellungen sind interessant: die jährliche und die auf 2009 bezogene Betrachtung.

  1. Der jährliche Kalte Progression-Effekt beantwortet die Frage, um wie viel höher die Lohnsteuereinnahmen in einem bestimmten Jahr waren, weil gegenüber dem Vorjahr die Tarifgrenzen nicht mit der Inflationsrate erhöht wurden. Zwischen 2010 und 2015 liegt dieser jährliche Effekt bei rund 170-750 Mio. €, zusammengefasst in dieser Tabelle. Zwischen 2016 und 2019 wird dieser Effekt, Berechnungen der Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung zufolge (Annahme 1,5% Inflation), auf rund 300 Mio. € jährlich geschätzt.
  2. Der auf die letzte Tarifreform 2009 bezogene Kalte Progression-Effekt beantwortet die Frage, um wie viel höher die Lohnsteuereinnahmen in einem bestimmten Jahr waren, weil seit 2010 die Tarifgrenzen nicht laufend Jahr für Jahr mit der Inflationsrate erhöht wurden, zusammengefasst in dieser Tabelle. Mit der Steuerreform 2015/16 wird der Tarif jedoch stärker korrigiert, als es zur Beseitigung des seit 2010 kumulierten Kalte Progression-Effekts notwendig gewesen wäre.

Anmerkung 1: Die Tabellen zeigen teilweise beträchtliche Unterschiede der berechneten Kalte Progression-Effekte! Allerdings sind nur die Berechnungen von Rainer/BMF und IHS (Tabellenspalten 1 und 2) transparent und nachvollziehbar.

Anmerkung 2: Präziser wäre es, nicht die Tarifgrenzen zu inflationieren (d.h. mit der Inflationsrate zu erhöhen), sondern die Bemessungsgrundlage zu deflationieren (um das Einkommen real konstant zu halten), den Tarif anzuwenden und den entsprechenden Steuerbetrag danach zu inflationieren.

Missverständnisse in der öffentlichen Diskussion

Warum liest man in den Medien, dass die Kalte Progression den entlastenden Effekt der Steuerreform „in wenigen Jahren“ wieder aufhebe? Warum spricht die Agenda Austria davon, dass „die Steuerreform alles andere als geschenkt ist“ und sich „die großzügig erscheinende Steuerreform“ als Maßnahme entpuppt, „die den Bürgern etwas von dem zurückgibt, was sie zuvor mehr bezahlt haben“? Stimmt das nun wirklich – oder wurde bloß nicht Vergleichbares in Beziehung gesetzt und irreführend interpretiert?

Es ist zwar richtig, dass zwischen 2010 und 2015 insgesamt 11,55 Mrd. € (die Summe der Spalte „Agenda Austria“ dieser Tabelle) an Steuereinnahmen durch die Kalte Progression lukriert wurden (nur unter der Annahme, dass auch die zugrunde liegenden Werte „richtig“ sind!). Allerdings sollte dieser Wert korrekterweise mit den gesamten Lohnsteuereinnahmen des Zeitraums 2010 bis 2015 (d.h. mit rund 145 Mrd. €) verglichen werden und nicht einem einzelnen Jahreswert (als Steuerreform titulierte Entlastung von 4,9 Mrd. € in 2016) gegenübergestellt werden, um eine ökonomisch sinnvolle, allerdings wenig spektakuläre Aussage zu erhalten: Rund 8% der Steuereinnahmen wurden aufgrund der Kalten Progression lukriert. Die Steuerreform bringt nämlich auch 2017 und in den folgenden Jahren eine Entlastung: 4,9 Mrd. € minus der neu einsetzenden Kalten Progression. Der Leser kann nun einfach mit der von der Agenda Austria bereitgestellten Berechnungen bis 2020 den Netto-Effekt 2010-2020 von Belastung durch die Kalte Progression und Entlastung durch die Steuerreform 2015/16 ausrechnen – und bekommt dabei Erstaunliches zu sehen! Die kumulierte Belastung beträgt demnach 11,55 Mrd. € (Belastung 2010-2015) plus 7,55 Mrd. € (Belastung 2017-2020), die kumulierte Entlastung 2016-2020 jedoch 24,5 Mrd. € …

Update 11.6.2015: Anmerkungen zur kalten Progression und ihrer Berechnung (WIFO Monatsbericht 5/2015)

Peter Brandner, Die Weis[s]e Wirtschaft

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