Peter Brandner und Robert Holzmann zu Regierungsplänen, Familienleistungen ans EU-Ausland zu kürzen (Wiener Zeitung)

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Gekürzte Familienbeihilfe ans Ausland – ein Wunsch ohne WegDie Spannung zwischen EU-rechtlicher und ökonomischer Betrachtung von Grundfreiheiten muss politisch gelöst werden.

Überlegungen in der Politik, die Familienbeihilfe für im EU-Herkunftsland verbleibende Kinder der im Inland beschäftigten Arbeitnehmer an die dort zumeist niedrigeren Lebenshaltungskosten („Indexierung“) anzupassen, sind nicht neu. Bereits Anfang Mai 2010 forderte dies der damalige ÖVP-Finanz-Staatssekretär Reinhold Lopatka. Die damalige ÖVP-Familien-Staatssekretärin Christine Marek reagierte „relativ satt und sauer“: europarechtlich nicht möglich, vom EuGH mehrfach ausjudiziert.

Erstaunlicherweise ist im Februar 2017 die Diskussion wieder aufgeflammt. Und angesichts des Vorhabens der ÖVP-FPÖ-Regierung, exportierte Familienleistungen indexieren zu wollen, erneut auf der Tagesordnung. Die Bundesregierung beruft sich dabei auf ein (in Fachkreisen umstrittenes) Gutachten von Wolfgang Mazal, Leiter des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien.

Verfassungsgerichtshof hilft nicht wirklich weiter

Das Mazal-Gutachten versucht zu zeigen, dass eine Differenzierung der Familienleistungen nicht nur nicht im Widerspruch zu Art 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Koordinierungsverordnung) stehen würde, sondern geradezu geboten sei: Da Familienleistungen keine Geldleistung im Rahmen der sozialen Sicherheit seien, sondern ausschließlich den Zweck der (teilweisen) Refundierung von Unterhaltskosten hätten, also Beihilfe zu diesen Ausgaben wären, ergibt sich als Hauptargument, dass es ohne Differenzierung zu sachwidrigen Be- und Entlastungen Unterhaltspflichtiger komme, was zu Verzerrungen wegen Über- oder Unterförderung führe.

Die Argumentation, Familienbeihilfe (sowie der funktionsgleiche, mit der Familienbeihilfe auch gemeinsam ausbezahlte Kinderabsetzbetrag) seien eine reine Transferleistung, negiert jedoch die funktionale Differenzierung im Familienlastenausgleich (duale Funktion von Familienleistungen). Die geminderte steuerliche Leistungsfähigkeit von Steuerpflichtigen gegenüber Steuerpflichtigen ohne Unterhaltslasten (gleichen Einkommens) ist beziehungsweise wäre im Steuerrecht über die Bemessungsgrundlage (das heißt als Freibetrag) zu berücksichtigen (horizontaler Familienlastenausgleich). Dagegen erfüllt die sozialrechtliche Transferleistung die Aufgabe einer unterhaltsbedarfsabdeckender Familienförderung (vertikaler Familienlastenausgleich auch unterschiedlicher Einkommensgruppen).

Der Verfassungsgerichtshof lässt es in seiner Judikatur offen, die verfassungsmäßig gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines Kindes alternativ durch die Transfer-Instrumente Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag (bei entsprechender Höhe) herzustellen.

So wird verständlich, warum das Mazal-Gutachten die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (Freizügigkeitsverordnung) nicht weiter beachtet. Die Freizügigkeitsverordnung liefert jedoch einen wichtigen Anknüpfungspunkt für das Diskriminierungsverbot sämtlicher sozialer Vergünstigungen innerhalb der Gemeinschaft der national Beschäftigten aufgrund der Staatsangehörigkeit.

Gerade auch der Aspekt des horizontalen Familienlastenausgleichs, der bei (zu) niedrigen steuerlichen Einkommen über Transfers (Familienbeihilfe, Kinderabsetzbetrag) hergestellt werden muss, lässt keinen Spielraum für ungleiche Behandlung innerhalb der (Solidar-)Gemeinschaft der national Beschäftigten. Leistungen des geplanten „Familienbonus plus“ daran zu knüpfen, dass „das Kind in Österreich lebt“, wäre ebenso betrachtet europarechtswidrig.

Die (EU-)rechtliche Betrachtung muss nicht zwingend zum selben Ergebnis führen wie eine rein ökonomische, die sich auch an Anreizeffekten orientiert: Die Mobilitätsentscheidung wie auch die Freiheit der Entscheidung, wo Kinder wohnen – am Ort beziehungsweise im Staat der Beschäftigung oder im Herkunftsland, kann sehr wohl durch Sozialleistungen (respektive deren Export auf Basis der Koordinierungsverordnung) „verzerrt“ werden. Relevant ist ja der Vergleich des erzielbaren Netto-Haushaltseinkommens (Summe aus Netto-Arbeitseinkommen und Sozialleistungen) mit den anfallenden Kinderkosten – jeweils im Herkunfts- wie im Zielland. So ergeben sich eine Reihe von ökonomischen Argumenten, die das (rechtliche) Diskriminierungsargument aushebeln beziehungsweise ins (ökonomische) Gegenteil verkehren.

Erstens, innerhalb der Koordinierungsverordnung gibt es Leistungsdifferenzierungen in den zwischenstaatlichen sozialrechtlichen Überweisungen, die die Unterschiede in der Kaufkraft respektive Kostenniveaus voll berücksichtigen. Diese Differenzierungen finden statt, wenn zum Beispiel Österreich die Gesundheitsaufwendungen von in einem „ärmeren“ EU-Mitgliedstaat lebenden Familienangehörigen der dortigen Sozialversicherung refundiert (wo die Familie angemeldet ist). Dabei können echte Individualkosten oder Pauschkosten zur Anwendung gelangen; in jedem Fall spiegelt diese Refundierung das Kostenniveau des Wohnsitzlandes ab, österreichischen Kosten dienen nur als Grenze für Refundierungen von direkt bezahlten Gesundheitsausgaben.

Hohe Familienleistungen wirken wie Lohnsubvention

Zweitens, die derzeit hohen Familienleistungen aus Österreich an „ärmere“ Länder repräsentieren in diesen Ländern unter Umständen bereits für zwei anspruchsberechtigte Kinder über 50 Prozent des lokalen Lohnniveaus. Sie wirken in ökonomischer Betrachtung wie eine sehr hohe Lohnsubvention, die das Arbeitsangebot aus diesen Ländern in Österreich erhöht und auf diese Weise die Freizügigkeit beeinträchtigt. Eine Indexierung der Familienleistungen würde dagegen die derzeitige Verzerrung im Arbeitsangebot neutralisieren. Das bedeutet, man kann sehr wohl eine Indexierung der Familienbeihilfe als eine notwendige Reform betrachten, um die ökonomisch verzerrte Arbeitnehmer-Freizügigkeit wieder herzustellen.

Müsste der EuGH als „echter“ Hüter der primärrechtlichen Grundfreiheiten in seiner Judikatur die Indexierung der Familienleistungen nicht eher fordern statt verhindern?

Drittens, Differenzierungen in der Familienbeihilfe finden von EU-Mitgliedstaaten mit Nicht-EU-Staaten im Rahmen von bilateralen Sozialversicherungsabkommen aus den genannten ökonomischen Überlegungen schon seit langem und in erheblichem Umfang statt. So hat Österreich im Abkommen (1996) mit der Türkei die Familienbeihilfe einseitig herausgenommen. Deutschland zahlt für Kinder in der Türkei nur einen Bruchteil der Leistungen, die in Deutschland gelten. Trotz dieser differenzierten Familienleistungen besteht mit all diesen Ländern weiterhin reger Arbeitsmarktaustausch.

Auch österreichische Kinder im Ausland wären betroffen

Falls es zu einer Indexierung der Familienleistungen an die jeweilige Landeskaufkraft kommen sollte, gilt es aber zu bedenken, dass damit nicht nur Kinder von ausländischen Arbeitnehmern betroffen wären, sondern auch österreichische Kinder im Ausland, sofern Anspruch auf österreichische Kinderbeihilfe besteht. Ebenso gilt, dass an österreichische Kinder, die in Ländern mit stärkerer Kaufkraft leben, höhere Leistungen zur Ausbezahlung kämen. Eine Differenzierung nach der Staatsbürgerschaft wäre eine echte Diskriminierung.

Vermutlich wird die aufgezeigte Spannung zwischen rechtlicher und ökonomischer Betrachtung von Grundfreiheiten nur politisch gelöst werden können. Überlegungen, die Koordinierungsverordnung zu ändern, bestehen zwar (Impact Assessment 2016, zu Familienleistungen insbesondere „FreSsco Report“ und „Brodolini Report“). Ein politischer Mehrheitswille, Familienleistungen zu indexieren, ist daraus nicht absehbar. Die EU-Kommission hat jedenfalls „nach sorgfältiger Überlegung beschlossen, eine solche Änderung nicht einzuführen“. Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 18. bis 19. Februar 2016 haben allerdings den Blick in Richtung verstärkt ökonomischer Betrachtung geöffnet.

(Wiener Zeitung, 26.1.2018)