Der Gedanke, ein Bundespräsident würde die Geschicke dieses Landes mitbestimmen, der durch eine manipulierte Wahl in sein Amt berufen worden wäre, war unerträglich. Ich habe daher von Anfang an seine Anrufung durch die Freiheitliche Partei begrüßt. Mit dem Erkenntnis vom 1. Juli 2016 hat der Verfassungsgerichtshof in einer außerordentlich wichtigen Frage aber eine klare Fehlentscheidung getroffen.
Nach Art. 141 Abs. 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes hat der VfGH einer Wahlanfechtung stattzugeben, „wenn die Rechtswidrigkeit des Verfahrens erwiesen wurde und auf das Verfahrensergebnis von Einfluss war“.
Das Schlüsselerkenntnis aus dem Jahr 1927
In einem Schlüsselerkenntnis aus dem Jahr 1927 (VfSlg 888) hat es die Auffassung vertreten, dass eine angefochtene Wahl nicht nur dann aufzuheben ist, wenn der Nachweis erbracht wurde, dass die vom Verfassungsgerichtshof als erwiesen angenommene Rechtswidrigkeit tatsächlich auf das Wahlergebnis von Einfluss war, sondern dass es genügt, „dass die erwiesene Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluss sein konnte, was zu beurteilen im Ermessen des Verfassungsgerichtshofs steht“.
Im Erkenntnis vom 1. Juli, mit dem die Bundespräsidentschaftswahl aufgehoben wurde, bezieht sich der VfGH auch auf diese Entscheidung. Er tut dies in einem entscheidenden Punkt aber mangelhaft: Wenn der Verfassungsgerichtshof im Jahr 1927 ausführt, dass nicht erwiesen werden muss, dass die Rechtswidrigkeit tatsächlich auf das Wahlergebnis von Einfluss war, sondern dass es genügt, dass die Rechtswidrigkeit auf das Wahlergebnis von Einfluss sein konnte, so kann man diese Interpretation als „rechtsschutzfreundliche Interpretation“ ansehen.
Wenn der VfGH aber – wie nun geschehen – bereits eine bloß theoretische Möglichkeit eines Einflusses auf das Wahlergebnis für ausreichend erachtet, so missversteht er die von ihm zitierte Vorentscheidung aus 1927. In dieser hat das Gericht ausdrücklich festgehalten, dass die Beurteilung der Möglichkeit eines Einflusses auf das Wahlergebnis „im Ermessen“ des VfGH steht.
Dies kann nichts anderes bedeuten, als dass der Verfassungsgerichtshof auf die Wahrscheinlichkeit eines Einflusses abstellen wollte; nicht jede Möglichkeit des Einflusses auf das Wahlergebnis sollte für eine Wahlaufhebung ausreichen, sondern es muss ein Einfluss mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gegeben sein.
Bereits hier hat der Verfassungsgerichtshof einen ersten und verhängnisvollen Fehler begangen. Er hat eine bloß theoretische Einflussmöglichkeit, deren Wahrscheinlichkeit gegen null tendiert, genügen lassen.
Die Wahrscheinlichkeit eines Einflusses
Das Wahlkarten-Ergebnis lag in den elf beanstandeten Bezirken mit 54,5 Prozent für Van der Bellen zu 45,5 Prozent für Hofer unauffällig im allgemeinen Trend. Die Plausibilitätsprüfungen des Statistikers Erich Neuwirth von der Universität Wien haben gezeigt, dass erst bei einem völlig aus der Reihe tanzenden Ergebnis von nur 34 Prozent für Van der Bellen zu 66 Prozent für Hofer der freiheitliche Kandidat insgesamt gewonnen hätte, es also zu einem Einfluss auf das Wahlergebnis gekommen wäre. Ein solches Ergebnis ist praktisch auszuschließen.
Ja, theoretisch ist vieles möglich. Theoretisch könnten auch, trotz ungefähr gleichen Potenzials, 76.000 Stimmen ausschließlich einem der beiden Kandidaten zukommen, wie der Verfassungsgerichtshof festhielt. In Wirklichkeit ist dies aber schlicht unmöglich. Mit seinem Erkenntnis vom 1. Juli hat der Verfassungsgerichtshof den Boden der Verfassung endgültig verlassen.
Zur Erinnerung: Nach dem Text des Art. 141 Abs. 1 B-VG ist eine Wahl aufzuheben, wenn eine Rechtswidrigkeit des Wahlverfahrens auf dessen Ergebnis „von Einfluss war“; auch wenn man mit der ständigen Judikatur diese Wendung so versteht, dass bereits die Möglichkeit eines solchen Einflusses ausreicht, kann man es nur als unvertretbar qualifizieren, wenn der VfGH eine Wahl aufhebt, bei der die Möglichkeit eines Einflusses aus statistischer Sicht praktisch gegen null tendiert. Eine solche Auffassung ist mit dem Text des Art. 141 Abs. 1 B-VG keinesfalls vereinbar. Man muss das Erkenntnis vom 1. Juli 2016 daher als Fehlerkenntnis qualifizieren.
Ein Schritt, den sich der VfGH durch Fehlleistung selbt verbaut
Der Verfassungsgerichtshof hätte also nach den von ihm festgestellten Rechtswidrigkeiten eine Neuauszählung der Briefwahlstimmen in den betreffenden Bezirken anordnen können. Diese Möglichkeit hat er, weil er gemäß Art. 141 Abs. 1 die teilweise oder gänzliche Wiederholung des Wahlverfahrens herbeiführen kann. Mit einer solchen Entscheidung hätte das Gericht alle Zweifel an der Gültigkeit des Wahlergebnisses beseitigen können. Diesen Schritt hat sich der Verfassungsgerichtshof allerdings mit einer weiteren, unverständlichen Fehlleistung selbst verbaut.
Weil im Verfahren bekannt wurde, dass Wahlbehörden Teilergebnisse, die in Sprengeln mit früherem Wahlschluss ermittelt wurden, bestimmten Stellen (Hochrechnung, ORF, Forschungsinstitute) mitgeteilt wurden, hat er unter Berufung auf das von ihm erfundene Gebot der „Reinheit“ der Wahlen das gesamte Wahlverfahren als rechtswidrig qualifiziert.
Der Verfassungsgerichtshof ist davon ausgegangen, dass Wähler, die am Wahltag etwa ab 13 Uhr von diesen Teilwahlergebnissen Kenntnis erlangten, ihr Wahlverhalten daran orientieren konnten. Da nicht anzunehmen ist, dass Hofer-Sympathisanten aus diesem Grund Van der Bellen gewählt hätten oder umgekehrt, kann dies nur bedeuten, dass Wahlberechtigte sich aufgrund der bekannten Teilergebnisse entschlossen haben, von ihrem Wahlrecht doch noch oder doch nicht Gebrauch zu machen. Das ist eine Verletzung des Prinzips der „Reinheit“ der Wahl?
Kann man diese Auffassung dem Verfassungsgerichtshof noch als bloße Weltfremdheit zugutehalten, so verlangt ein anderer – rechtlicher – Aspekt eine strengere Beurteilung. Da der Verfassungsgerichtshof nämlich eine durchgeführte Wahl auch nur teilweise aufheben kann, kann dies zu einem neuen Abstimmungsvorgang bloß in Teilen des Wahlgebietes führen.
Am Beispiel der Nationalratswahlordnung: Hebt der Verfassungsgerichtshof die Wahl in einem Bundesland auf, so bedeutet dies, dass die Wähler in diesem Bundesland neuerlich wählen müssen. Zum Zeitpunkt der Wiederholungswahl ist ihnen aber genau bekannt, wie die Wahlergebnisse in allen anderen Bundesländern ausgefallen sind. Sie können also -und sie werden es vielfach auch tun -ihr Wahlverhalten bei der Wiederholungswahl an diesen Ergebnissen orientieren; das folgt zwingend aus dem Verfassungsrecht.
Hätte der Verfassungsgerichtshof seine eigene Kompetenz zur Überprüfung von Wahlen einigermaßen kritisch überdacht, so hätte er in der vorzeitigen Veröffentlichung von Teilergebnissen mit Sicherheit nicht eine Verletzung der „Reinheit“ der Wahlen sehen können.
Was zu erwarten gewesen wäre …
Man durfte sich vom Verfassungsgerichtshof erwarten, dass er in einer der wichtigsten Entscheidungen, die er in der Zweiten Republik zu fällen hatte, gründlich und verantwortungsbewusst entscheidet und eine klare und nachvollziehbare Begründung seiner Entscheidung gibt. Man hätte sich auch erwarten können, dass er seine vielfache Beteuerung, für Rechtsstaat und Demokratie sorgen zu müssen, durch besondere Sorgfalt untermauert. Dafür wäre eine Entscheidungsbegründung erforderlich gewesen, die jeden Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidung ausschließt.
Heinz Mayer, Verfassungsjurist
Em. o. Univ. Prof. DDr. Heinz Mayer ist seit 1. Oktober 2014 von seinen Dienstpflichten an der Universität Wien (Rechtswissenschaftliche Fakultät) entbunden und im (UN)Ruhestand. Of Counsel bei LGP und als Vorsitzender einer Kommission zum Schutz der Menschenrechte im Rahmen der Volksanwaltschaft.
[Anm.: Dieser Beitrag ist eine etwas gekürzte Version des Artikels aus dem FALTER 34/16]
Zum Thema passend: Eine Mathematik-Lektion für den VfGH (Erich Neuwirth und Walter Schachermayer im FALTER 36/16)
Ergänzend eine Antwort an Johannes Schnizer: Eine klare Fehlentscheidung des VfGH