Silber für Europa – Wie kann Europa der Globalisierungskrise begegnen?

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US-Präsident Trump hat mit seinem Wahlkampfslogan „America First!“ und seinen holprigen ersten Umsetzungsschritten in aller Welt eine Welle von satirischen Reaktionen ausgelöst, in denen sich einzelne Länder und Regionen als Anwärter auf den zweiten Rang anbieten. Angesichts der nationalistischen Drohungen aus den USA kann sich Europa als Ganzes nicht mit einer „Silbermedaille“ zufrieden geben.

Was die Welt von Europa lernen könnte, wurde hier erläutert. Im Folgenden geht es darum, wie Europa der Globalisierungskrise begegnen kann.

Im Lichte der genannten Erfolge der Globalisierung europäischer Prägung wäre es kontraproduktiv, ihre unerwünschten Folgen mit einer generellen Rücknahme von Integrationsschritten kurieren zu wollen. Als Antithese zur gegenwärtigen US-Administration mit ihren Elementen einer „illiberalen Demokratie“ muss Europa eine vorwärts gerichtete Anpassungsstrategie entwickeln, die das im Grunde bewährte System mit den geänderten Voraussetzungen in Einklang bringt:

  • Die Integration muss unverzüglich in jenen Bereichen vertieft werden, in denen die einzelnen Mitgliedstaaten ohnehin nicht wirksam agieren können, also etwa in Fragen der internationalen Migration und des Klimaschutzes. Die verbreitete Frustration über „die EU“ rührt ja auch daher, dass einzelne Mitgliedstaaten oft aus innenpolitischen Interessen unionsweite Aufgaben torpedieren.
  • Wo die Integration die Mitgliedstaaten schon bisher überfordert hat, empfiehlt es sich, das Integrationstempo wenigstens temporär zu verlangsamen oder auszusetzen. Dieses Modell wird ohnehin bereits bei der schrittweisen Verwirklichung der Währungsunion und bei der flexiblen Anwendung des Schengen-Abkommens angewendet. Es könnte zur Erleichterung der Krisenbewältigung etwa auch jenen Mitgliedern der Eurozone zu Gute kommen (etwa durch auflagengebundene langfristige Moratorien), in welchen die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes innenpolitische Umstürze auslösen würden.
  • Die EU benötigt eine neue langfristige Vision, die – in Fortsetzung des ursprünglichen Friedensprojektes – eine umfassende Mitgliedschaft ermöglicht. Sie muss daher sowohl jenen Mitgliedstaaten gerecht werden, die eine vertiefte Integration bis hin zum europäischen Bundesstaat anstreben, als auch jenen, die nur einen losen Staatenbund eingehen wollen. Dies läuft auf ein Modell von wenigstens „zwei Geschwindigkeiten“ hinaus: einer „Kern-EU“ mit homogenen Mitgliedstaaten, die die Voraussetzungen einer optimalen Währungszone erfüllen, und einer „Umgebungs-EU“, deren Mitglieder jedenfalls durch die Regeln des Binnenmarktes verbunden sind.
  • Kurz- bis mittelfristig sind flankierende Maßnahmen auf nationaler und EU-weiter Ebene in jenen Bereichen zu setzen, in denen die Globalisierung zu einer systematischen Benachteiligung einzelner Bevölkerungsgruppen geführt hat, und zwar sowohl wirtschaftlichen als auch im Hinblick auf kulturelle oder geografische Identitäten.

Solche flankierenden Maßnahmen müssten sich auf die umfassenden Zielsetzungen besinnen, die schon früher mit den Lissabon-Zielen und mit Europa 2020 formuliert worden sind, wobei man gerne auf den ursprünglichen Fokus, möglichst bald die USA einzuholen, verzichten könnte. Es bedürfte nur der Umsetzung der Ziele durch eine Reihe von Maßnahmen, die aus ökonomischer Sicht jedenfalls die folgenden Bereiche zu enthalten hätten:

  • Weitere Verringerung der Armutsschwelle: Die Zielsetzung von Europe 2020, die Zahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen um 20 Millionen zu senken, ist bei weitem nicht erreicht und ist in den letzten Jahren sogar rückläufig gewesen.
  • Migration vs. Flüchtlingsströme: Unabhängig von den kriegsbedingten Flüchtlingsströmen hat die Globalisierung (insbesondere über technologische Neuerungen) dazu beigetragen, dass die (Wirtschafts-) Migration aus armen Ländern in die reiche EU angeschwollen ist. Für eine gewisse Entspannung könnte die Unterscheidung zwischen legaler und illegaler Immigration sorgen, wenn gleichzeitig die Möglichkeiten für legale Migration vereinfacht und transparenter gestaltet werden. Letztlich geht es um das Ersetzen von Migration aus den Herkunftsländern durch Kapitalexporte dorthin, wobei allerdings die Möglichkeiten und Wirkungen von Maßnahmen in diesen Ländern noch völlig offen sind.
  • Jedenfalls bedarf es auch in den EU-Ländern zusätzlicher Bildungsanstrengungen auf allen Ebenen (einschließlich Vorschulalter), um die Chancengleichheit zu unterstützen und die Qualität bis hin zur akademischen Bildung und Forschung anzuheben. Die Integration von perspektivlosen Jugendlichen, insbesondere die gezielte Ausbildung von Flüchtlings- und Migrantenkindern, soll verhindern, dass die Zahl der jungen Menschen, die sich als „verlorene Generation“ empfinden, weiter steigt.
  • Defizite in der Regulierung der Finanzmärkte tragen offensichtlich zur Krisenanfälligkeit der Weltwirtschaft bei. Um diesen Mangel zu beheben, hat die EU mit dem Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM), dem Einheitlichen Abwicklungsmechanismus (SRM) und dem harmonisierte Einlagensicherungssystem (DGS) die Rechtsbasis müssen die von der EU bereits geschaffenen Voraussetzungen für eine Bankenunion umgesetzt werden. Gleiches gilt für die Bail-in-Regeln, die im Krisenfall sicherstellen, dass Bankenverluste nicht von der Allgemeinheit, sondern von den Anteilseignern und den Gläubigern getragen werden.
  • Weiterhin äußerst kontrovers ist der Gedanke, Elemente der Fiskalpolitik und der Finanzierung öffentlicher Schulden, die bisher in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt, auf die Gemeinschaftsebene zu heben. Zwar käme eine Fiskalunion mit neuen Budgetregeln und unionsweiten automatischen Stabilisatoren einer solidarischen Stabilisierung der Arbeitsmärkte zugute, doch ist eine solche Entwicklung angesichts der erwähnten Überforderung mancher Mitgliedstaaten mit den bisherigen Integrationsschritten derzeit keine politische Option.
  • Einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhalt der Europäischen Union könnte eine Ausweitung der eigenen Steuereinnahmen bringen. Dies würde die nationalen Budget von direkten Beiträgen zum EU-Budget entlasten und der EU mehr Spielraum für eigene Ausgabenprogramme verleihen.
  • Um die reale Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten zu unterstützen, müssten Investitionen, die von einer neu kapitalisierten Europäischen Investitionsbank (EIB) mitfinanziert werden, zu einem Ausgleich von Produktivitätsunterschieden beitragen.
  • Die EU wirkt an globalen Lösungen von Umweltproblemen mit, wie sie zuletzt im Pariser Klimaschutz-Abkommen vom Dezember 2015 vereinbart wurden. Als Leitfaden dient der EU derzeit das Umweltaktionsprogramm, das bis 2020 umzusetzen ist und einen Fokus bis zum Jahr 2050 bietet. Der von Präsident Trump angekündigte Ausstieg der USA aus dem bereits ratifizierten Pariser Abkommen sollte die EU nicht hindern, den bisher eingeschlagenen Weg fortsetzen und damit auch seine weltweit führende Rolle in der Entwicklung von Umwelttechnologien ausbauen.
  • Die von den USA losgetretene Protektionismuswelle ist aus europäischer Sicht nur zu bedauern. Die neue amerikanische Handelspolitik kann aber durchaus als Chance genutzt werden, die traditionell sehr einseitigen transatlantischen Beziehungen der meisten EU-Staaten zu ergänzen und den vernachlässigten Beziehungen zu China und den ASEAN-Länder mehr Gewicht zu verleihen. WTO-widrige US-Maßnahmen sollten allenfalls punktuell erwidert werden, um den multilateralen Freihandel nicht durch ungezielte Retorsionen weiter zu beschädigen.

Die hier angedeuteten Handlungsfelder sind bei weitem kein vollständiges Konzept für die künftige Behauptung der europäischen Idee in einem zunehmend von illiberalen Strömungen beeinflussten Umfeld – also für das Erringen der Goldmedaille vor den USA. Es handelt sich um einige wichtige Bereiche, die jedenfalls zu beachten sind, will Europa sein bewährtes Wirtschafts- und Sozialmodell auch in Zukunft bewahren und weiterentwickeln können.

Heinz Handler, Ökonom

Univ.-Doz. Dr. Heinz Handler ist Emeritus Consultant am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und Dozent am Institut Stochastik und für Wirtschaftsmathematik, Forschungsgruppe Ökonomie, der Technischen Universität Wien.

Anm.: Die Beiträge Silber für Europa – Was kann die Welt von Europa lernen? und Silber für Europa – Wie kann Europa der Globalisierungskrise begegnen? wurden zusammengefasst unter dem Titel Silber für Europa auf dem blog Ökonomenstimme veröffentlicht.

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